"Lass jeden Freund wissen, in welch elender Lage ich bin", schrieb Francesco di Marco Datini in einem Brief aus dem Jahr 1394 an Monna Margherita, seine Frau. "Erzähle ihnen, dass sich auf den vier oder fünf Galeeren von uns, die auf hoher See gekapert wurden, mehr als die Hälfte unserer Habe befand."
Datini (1335 bis 1410) hatte nicht wirklich gelogen. Womöglich hatte er ein bisschen übertrieben. Glänzend wie immer verstand er es, selbst noch aus seinem Unglück einen Vorteil zu ziehen. Die Klage verfolgte nämlich nur den einen Zweck, für ärmer gehalten zu werden, als er war, um dadurch ordentlich Steuern zu sparen.
Zweigniederlassungen im gesamten Mittelmeerraum
Datini, ein Selfmademan der Renaissance, ist der Prototyp des modernen Kaufmanns. Dass wir gerade über ihn, den Kaufmann aus Prato und Florenz, so viel wissen, liegt an den über 150.000 Briefen, die von ihm überliefert sind. Datini war Tuchhändler, Bankier und Spekulant. Er hat es zu unbeschreiblichem Wohlstand gebracht, ein erstes globales Unternehmen mit Zweigniederlassungen im gesamten Mittelmeerraum gegründet und die Künste zu großer Blüte geführt. Und er hat eine Stiftung für die Armen eingerichtet, die heute noch existiert. Seinen Erfolg verdankte Datini schöpferischem Unternehmergeist und einem Wagemut, der, wie seine Biografin Iris Origo bemerkt, stets im rechten Augenblick durch Klugheit und Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen gezügelt wurde.
Tatsächlich vollzieht sich in Norditalien im späten Mittelalter und der frühen Renaissance eine Umwertung der bis dahin geltenden Werte, die dem sich entfaltenden globalen Handel der damaligen Welt seine moralische und theologische Legitimation verschaffte. Ein gutes Gewissen gab den Kapitalisten den nötigen Rückhalt und inneren Antrieb für ihre geschäftlichen Abenteuer. Das schlechte Gewissen, welches das Christentum seit seinem Sieg unter Konstantin unter die Reichen gestreut hat, hatte dagegen stets als Wohlstandsbremse gewirkt.
Im Namen Gottes und des Geschäfts
Mit Datini war es schon anders: Als harter Geschäftsmann holte er sich seine Goldgulden, wo er konnte. Aber gleichzeitig versäumte er es nie, seinen religiösen Pflichten nachzukommen. Das war nicht nur ein äußerlicher Tribut an die religiösen Konventionen seiner Zeit, sondern Ausdruck einer inneren Überzeugung, wonach christlicher Glaube und wirtschaftlicher Erfolg einander mehr bedingen als widersprechen. Jeder Handel wurde abgeschlossen "cho'l nome di Dio e di ghuadagno": im Namen Gottes und des Geschäfts.
Das Florentiner Zeitalter der Industrie und des Handels verstand sich mindestens so sehr im Einklang mit dem Auftrag des Schöpfers, wie es sich von der mittelalterlichen religiösen Tradition absetzte. So hart wie Gott gearbeitet hatte, um seine Schöpfung so gut wie möglich - also perfekt - zu machen, so sehr sollten auch die Florentiner Kaufleute sich anstrengen, um am Ende dafür die gerechte Belohnung zu erhalten. Kaufmännische Arbeit ist Nachahmung des göttlichen Schöpfungsaktes und also gut und gottgefällig.
Schulden wurden positiver gedeutet
Die Jahre nach 1400 sind die Achsenzeit der europäischen Wohlstandsgeschichte. Hier ist die Antwort zu finden auf die Schicksalsfrage, warum einige Nationen reich, andere aber arm geblieben sind. Jetzt wurde der biblische und mittelalterliche Diskurs, der den Reichtum diskreditierte ("eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, ...") und die Händler schlecht machte, umgewidmet in eine positive Rhetorik, wonach es gleichermaßen Aufgabe und Pflicht der Kaufleute sei, "reich zu werden und ehrenwerte Leute zu sein".
Zentrale Deutungsarbeit dieser rhetorischen Umwertung kam der positiven Darstellung der Schulden zu, wobei feinsinnig das Verbot des Zinsnehmens (oder Wuchers) unterlaufen wurde. Dies erst bot den Hebel zum Wohlstand. Dass die (reiche) Kirche der Renaissance selbst auf ökonomischen Sachverstand bei der Verwaltung ihrer Güter angewiesen war, erleichterte den Prozess der Legitimation des Kapitalismus gewiss.
Das Gemeinwesen muss auch profitieren
Um nicht den Bruch mit der religiösen Tradition zu riskieren, war die Herausbildung einer ehrbaren Kaufmannsethik für frühe Kapitalisten wie Datini geradezu essentiell. Der Geist des Kapitalismus entspringt gewiss jenen Tugenden der Askese, die Max Weber dem Protestantismus zuschreibt. Aber er speist sich auch aus jenem Welten erobernden Abenteurertum des Kaufmanns, seinem Wagemut und seiner Jagd nach Reichtum, wie er sich im renaisansistischen Katholizismus des 14. und 15. Jahrhunderts herausgebildet hat. Es ging um die Legitimation des guten Gewissens, wonach man erfolgreicher Kaufmann, Spekulant und guter Christ zugleich sein könne und sich nicht schämen müsse, dies zu zeigen, solange nur das Gemeinwesen, seine Künste und seine Wissenschaften profitieren.
Datini gehört im Vergleich mit christlicher Antike und christlichem Mittelalter in eine neue moderne Welt, die Unternehmertum, Gewinn und Reichtum moralisch nicht mehr verwerflich findet. Zugleich zählt er aber aus der (womöglich verklärten) Perspektive des frühen 20. und 21. Jahrhunderts zu einer alten Welt, in welcher Bildung und Besitz, unternehmerische Risikofreude und fromme Religion, Eigennutz und Orientierung am Gemeinwohl noch eins waren.
Die Einheit von Kapitalismus und Moral zerbrach
Diese Einheit von Kapitalismus, Moral, Wissenschaft und Kunst wurde im Lauf der Zeit immer brüchiger. Mitte des 19. Jahrhunderts ist sie dann zerbrochen. Jetzt kommten dem Kaufmann die Kultur und Moral abhanden, und der Intellektuelle bemächtigt sich ihrer, um daraus eine Waffe gegen den Wirtschaftsmann zu schmieden. Alle Rhetorik des Antikapitalismus, der Soupçon gegen Reichtum, Erfolg und Erwerbstrieb, um die es seit der Renaissance still geworden war, wird plötzlich wiedererweckt.
Der Kaufmann bleibt zurück, stumm und sprachlos, gefangen im "nur" Ökonomischen, wo es ihm zunehmend schwer fällt, einen Begriff von Zweck und Ziel zu finden. Der Bildungsbürger aber,
umso beredter, kehrt seinem Alter Ego den Rücken und macht sich zum Anführer seiner Gegner. Der Intellektuelle ist von nun an habituell links; sein Ressentiment bedient sich aus dem
Arsenal christlichen Reichtumskritik, die von Leuten wie Datini schon einmal überwunden worden war.