Was ist dran an diesem Mythos? Und wie zukunftsträchtig ist er?

Wer heute einen traditionsbewussten Hamburger Kaufmann treffen möchte, wird ihn am ehesten in der Handelskammer finden. Zu Silvester, um genau zu sein, mittags um 12 Uhr. Da treffen sie sich zur Jahresschlussveranstaltung der Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg, und der Vorsitzende hält ein kleines Grußwort. Im vergangenen Jahr kam er auf die Rote Flora zu sprechen. Dass Klausmartin Kretschmer, dieser "Kulturunternehmer", die Räumung angekündigt und Krawalle in Kauf genommen habe, sagte der Vorsitzende sinngemäß, sei moralisch fragwürdig und deshalb "nicht ehrbar" gewesen.

Was aber ist ehrbar? Als die Interessengemeinschaft des Ehrbaren Kaufmanns 1517 gegründet wurde, war "ehrbar" kein ethischer Begriff. Ehrbar war, wer Erfolg hatte. Und die Kaufleute hatten Erfolg, zunächst als Teil der Hanse, dann als Bürger der Freien Stadt Hamburg. Sie nutzten die Ausweitung des Seehandels und etablierten Hamburg als Knotenpunkt. Gelegentlich gab es Weltkrisen, dann fallierten, wie der Konkurs bei den Hanseaten früher hieß, ein paar Kaufleute, die waren dann nicht mehr ehrbar.

Die kleine Elite, die über Jahrhunderte die Geschicke der Stadt bestimmte, prägte den Typus des hanseatischen Kaufmanns. Die Eigenschaften, die dieser Typus kultivierte, waren vor allem Sekundärtugenden. Er war verlässlich, trat korrekt und verbindlich auf (und hatte dazu eine sehr schöne Handschrift) – all das war weniger moralisch als ökonomisch bedingt. Wer in fernen Regionen Geschäfte machte, war auf langfristige Beziehungen angewiesen, auf einen guten Namen und auf ungeschriebene Gesetze, die über wechselnde Herrschaftsverhältnisse erhaben waren.

Der ehrbare Kaufmann hielt sich eine gewisse Fantasielosigkeit zugute. Nicht genial wollte er sein, sondern bodenständig, vorsichtig, nur keine großen Pläne haben, die ihn womöglich ruiniert hätten. Percy Ernst Schramm, lokalpatriotischer Chronist, schreibt in seiner Kaufmannsgeschichte, dass ein "zu großer Reichtum an Ideen" dem Kaufmann schaden könne, weil er dadurch das Risiko eingehe, "zum Phantasten und Projektemacher abzusinken".

Klar, dass eine Verallgemeinerung, der Hamburger Kaufmann als solches, nicht ohne Widersprüche bleiben kann. Der Kaufmann war demzufolge freigiebig, ein großer Mäzen – aber gleichzeitig sparsam bis zum Geiz. Er war Weltbürger – und doch ohne größeres allgemeinpolitisches Interesse oder intellektuelle Neugier. Und: Bei aller Risikoscheu suchte er stets das Abenteuer, wenn es darum ging, ferne Regionen zu erschließen oder dort zu investieren. Schon am transatlantischen Sklavenhandel waren auch hanseatische Kaufleute beteiligt, später profitierten sie von der aggressiven Kolonialpolitik des Deutschen Reiches.


Nicht die Moral war entscheidend, sondern der äußere Eindruck

Das vielleicht wahrhaftigste Psychogramm eines hanseatischen Kaufmanns findet sich in den Erinnerungen Alwin Münchmeyers. Der Bankier wird in dem Band Hinter weißen Fassaden zitiert, dass er von Haus aus in der Schule habe schummeln dürfen, aber nur, solange er nicht erwischt wurde, ansonsten hätte ihm der Vater "moralische Vorhaltungen" gemacht. Mit anderen Worten: Nicht die Moral war entscheidend, sondern der äußere Eindruck, die Reputation.

Den Kern von Münchmeyers Erinnerungen bildet die Nazizeit. Hitler war den Hamburgern anfangs suspekt, sie fürchteten eine protektionistische Wirtschaftspolitik. Aber die Nazis setzten einen Bürgermeister ein, der aus Kaufmannskreisen stammte: Carl Vincent Krogmann, einen schwachen Politiker und trotzdem, erinnert sich Münchmeyer, "einer von uns" und darum akzeptiert. Für das Schicksal der Juden interessierte sich die Kaufmannselite wenig. Nicht aus Feigheit hat sie moralisch versagt, sondern aus Gleichgültigkeit. "Wir lebten in der Welt der Ruderpokale und Gewürzpreise", schreibt Münchmeyer. "Wir haben gearbeitet, geheiratet, Kinder bekommen und Feste gefeiert", und "uns verhalten wie die berühmten drei Affen. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen."

Die Ausrichtung der Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns auf die Wirtschaftsethik begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In den vergangenen Jahren hat das Thema nochmals an Gewicht gewonnen. Das ist der Finanzkrise zu verdanken, die für all das steht, was die hanseatischen Kaufleute weit von sich weisen: die kurzfristige Gewinnorientierung, die rücksichtslose Geschäftemacherei.

Ende 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, trafen sich hundert Mitglieder in der Handelskammer, um zu reden. Am Ende gaben sie sich ein "Leitbild". Darin ist nun nicht mehr nur von Verlässlichkeit die Rede, sondern auch von Vorbildfunktion und gesellschaftlicher Verantwortung.
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